Geheimnisvolle Gebete
Photos: Christian Bobst
Heiler lassen Schmerzen verschwinden. «LE SECRET» – eine überlieferte Westschweizer Familientradition sorgt bei unserer Reporterin für Erstaunen – und ganz viele Fragen.
Es gibt Dinge im Leben, die kann man sich nicht erklären. Man kann sie glauben. Oder kann sie anzweifeln. Ich jedenfalls erlebte es vor fünf Jahren hautnah mit, als sich mein Vater, der Tischler ist, mit kochend heissem Wasser verbrennt und höllische Schmerzen leidet. Um sein Leiden zu lindern, ruft meine aus der Westschweiz stammende Mutter damals bei «le secret» (das Geheimnis) an.
Mein Vater erinnert sich: «Ich bin damit beschäftigt, einen Tisch abzulaugen, als mir beim Schwammauswaschen kochendes Wasser in die Plastikhandschuhe rinnt. Panik und Schmerz überkommen mich …»
Was verbirgt sich hinter «dem Geheimnis», will ich wissen und stosse bei meinen Nachforschungen auf Louise, 50 (Name geändert). Louise ist eine «faiseuse de secret». So werden die Gebetsheiler in der Romandie genannt, wo die Heil-Tradition sehr verbreitet ist. Louise, die gläubige Katholikin, soll dank ihrer Gabe Koliken und Verbrennungsschmerzen lindern sowie innere Blutungen zum Stillstand bringen können. Das alles nur via Telefon. Noch dazu gratis.
Bei meinem Besuch klingelt das Telefon von Louise. Eine Mutter, ihr Baby hat Bauchweh. Sie habe die Nummer der «faiseuse de secret» in einer Liste im Internet gefunden. Louise bittet um den Namen des Kindes, dessen Geburtsdatum und den-Wohnort. Die Gebetsheilerin wünscht keine weiteren Anrufe. Sie legt auf, schliesst ihre Augen und betet still. Dabei spürt sie, wie sie mir erzählt, dass sich ihre Hände erwärmen. Das alles dauert nur zwei Minuten.
Etwas länger dauert es bei Brandverletzungen. Für Verbrennungen zweiten oder dritten Grades gibt Louise zusätzliche Pflegeanweisungen.
Mein Vater erinnert sich: «Ich soll meine Hände zwanzig Minuten in kaltes Wasser halten. Und anschliessend dick Flammazine auftragen. Meine Schmerzen sind zu dem Zeitpunkt bereits weg.»
Zurück zu Louise. Sie war früher Krankenschwester. Ihr Rat: Ist eine Wunde grösser als fünf Zentimeter, soll die betreffende Person zum Arzt. «Le secret» nehme nur den Schmerz weg und soll dafür sorgen, dass es keine hässlichen Vernarbungen gibt.
Louise erhielt ihre Gabe von ihrer Mutter. So wie diese die Gabe einst von ihrer Mutter erhielt. Eine Familiensache, die Gebete werden von Generation zu Generation weitergegeben. Einzige Bedingung: «‹Le secret› darf nur an integre Personen weitergereicht werden, die helfen wollen und kein Geld verlangen.»
Mit «le secret» begonnen hat Louise nach dem Tod ihres Vaters. «Wütend hörte meine Mutter mit dem Gebetsheilen auf. Sie wollte die Hilfe Gottes nicht mehr einfordern.» Und so übergibt die Mutter die Gebete Louise. «Ich habe keine besondere Gabe», sagt sie bescheiden. Die handgeschriebenen sowie auf Schreibmaschine getippten Zettelchen mit den Gebeten bewahrt sie in einem Buch auf.
Mein Vater erinnert sich: «Ich soll die Pflegeprozedur zweimal täglich wiederholen. Mit der Zeit bildet sich auf jedem meiner verbrannten Handrücken eine Riesenblase. Nach drei Wochen sind meine Wunden komplett verheilt.»
Wovon lebt Louise, wenn sie für ihre Hilfe kein Geld verlangt? Den Lebensunterhalt verdient sie mit einem Teilzeitjob als Jugendanimateurin. Hin und wieder passiert es, dass sie Couverts mit Geld in ihrem Briefkasten findet. Sie steckt es Familien in Not zu. «Manchmal erhalte ich auch Lindor-Kugeln. Die lasse ich mir schmecken.» Für ihren persönlichen Ausgleich stellt Louise Sträusse aus Trockenblumen her und besucht Malkurse.
Wird Louise ihre Gabe an ihre Kinder weitergeben? Ihre Älteste ist 27, der Jüngste 21. Bei der ältesten Tochter hat «le secret» erstaunlicherweise nicht funktioniert. Als Louise einmal für sie betete, bekam sie trotzdem eine grosse Narbe. Die Tochter verbot ihr danach, ihr zu helfen.
Wie erklärt sich mein Vater die wundersame Schmerzlinderung?
«Ich wusste damals nichts vom Anruf meiner Frau bei ‹le secret›. Ich glaube, wenn zwei Personen eine starke Beziehung haben, nimmt die Gebetsheilerin die Ängste der Person, die daran glaubt – in dem Fall meine Frau – weg. Das wiederum hat mir geholfen. Heute sehe ich, dass ich keinerlei Spuren der Verbrennung mehr habe.»
Louise ist überzeugt, «dass Gott handelt, wenn wir für ihn offen sind». Sie sagt auch, dass es nur funktioniert, wenn die Person, die Hilfe bei ihr sucht, auch fest daran glaubt, diese Hilfe zu bekommen.
Dass «le secret» überwiegend in der Romandie praktiziert wird, ist für Louise im katholischen Glauben begründet. In Appenzell Innerrhoden kennt man es allerdings auch. Dort wird das Thema geheimnisvoller behandelt.
Wie finden Hilfesuchende zu Louise? Ihr Name samt Telefonnummer findet sich im Internet unter www.gedelaloye.ch. Ausserdem taucht sie in Büchern von Magali Jenny auf. Jenny und Delaloye gelten als Experten beim Thema «le secret». Sogar Spitäler, wie etwa in Sion, führen Listen mit Namen von Gebetsheilern. «Unser Notfallpersonal gibt Anrufern die Nummern heraus oder ruft sogar selbst bei Gebetsheilern an», sagt Joakim Faiss, Kommunikationsverantwortlicher der Walliser Spitäler.
Louise spricht für Krebskranke während ihrer Radiotherapien jede Woche Gebete. Ein Zettel mit den Namen der Patienten sowie den Zeiten ihrer Therapie hängen bei ihr in der Küche.
Als ehemalige Krankenschwester schätzt sie sowohl die Schulmedizin als auch alternative Heilmethoden wie «le secret». Louise hat zudem noch eine Ausbildung in Psychokinesiologie absolviert. Dabei geht es um chinesische Energien. Bei ihren Telefonaten versucht Louise stets, auch durch Gespräche zu helfen. Und da gehört etwas Psychologie dazu …