Abgeschiedenheit auf Hallig Hooge
Text: Tanja Reuschling, Pauline Broccard
Photos: Dirk Eisermann/Laif, Frank Siemers/Laif
Aus München zog Katja Just mit nur 25 Jahren auf ein Eiland mitten im Wattenmeer. Sie suchte die Nähe zur Natur, Ruhe und Weite, musste aber auch feststellen, wie eng es auf einer Hallig werden kann. Hier erzählen wir ihre Geschichte.
Etwa eineinhalb Stunden braucht die Fähre, um das knapp sechs Quadratkilometer große Fleckchen Erde im schleswig-holsteinischen Wattenmeer zu erreichen. Zweimal am Tag fährt sie im Sommer, im Herbst
und Winter meist nur einmal, montags und mittwochs gar nicht. Topfeben liegt Hallig Hooge vor einem, wenn man von Bord geht, zu Fuß könnte man sie in ungefähr vier Stunden umrunden. Es gibt ein paar größere Hügel, die sogenannten Warften, auf denen die Häuser stehen. Mehrere Male im Jahr ist Land unter, dann wird der Rest der Hallig von der Nordsee überschwemmt. 108 Menschen leben auf Hooge,
es gibt einen Edeka, ein paar Gaststätten, eine Kirche, viele Schafe, Wiesen und Weite. Mehr nicht.
Es ist ein großer Schritt, sich für ein Leben hier zu entscheiden. Besonders wenn man gerade mal 25 ist und aus einer Millionenstadt wie München kommt. Katja Just, heute 43, hat genau das getan. „Als Kind habe ich hier herrliche Sommerurlaube mit meiner Familie verbracht. Hooge wurde schnell zum Sehn-
suchtsort, immer wenn ich daran dachte, brachte das ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit mit sich“, erzählt sie. Viele Jahre später kauften ihre Mutter und deren zweiter Mann auf der Hallig das „Haus am Landsende“, in dem sie auch zwei Ferienwohnungen vermieteten. Katja besuchte die beiden, so oft es ging. Dann sprach ihr damaliger Freund plötzlich von Heirat und Kinderkriegen, und Katja wurde klar: wenn Kinder, dann auf Hooge. „Ich wollte das nicht in München. Da war mir alles zu schnelllebig und oberflächlich ge- worden. Ich selbst bin in Ismaning groß geworden, als es noch einen dörflichen Charakter hatte. Ich wollte, dass auch meine Kinder in der Natur aufwachsen und Abenteuer erleben können, ohne dass ich mir ständig Sorgen um sie machen muss.“ Mit ihrem Freund schmiedete sie Pläne für eine Zukunft auf der Hallig. Doch als der Umzug konkret wurde, bekam er kalte Füße, für ihn war der Schritt zu groß. „Letztlich ist es gut so. Auf der Hallig fühlt man sich wirklich wohl, oder das komplette Gegenteil ist der Fall. Und die Hallig ist viel zu klein, als dass sie Menschen
aushalten würde, die nichts mit ihr anfangen können.“ Im Oktober 2000 zog Katja schließlich allein dorthin, ihren Job als kaufmännische Angestellte bei der Lufthansa hatte sie bereits gekündigt und ihrer Mutter außerdem ver- sprochen, das Haus am Landsende zu übernehmen.
ZWISCHEN DEN STÜHLEN
„Alles richtig gemacht“, sagt sie heute, und man versteht das gut, wenn man sich in ihrem denkmalgeschützten Reetdachhäuschen auf der Ockenswarft umsieht. Urge- mütlich ist es hier, es gibt schöne alte Möbel, in der Vitrine friesisches Porzellan und silbernes Besteck, über dem Holzherd baumeln gusseiserne Pfannen. Besonders stolz ist Katja auf ihren Garten, dem ein Klostergarten
als Vorbild diente und in dessen von Buchsbaumhecken eingefassten Beeten vom Frühjahr bis in den Herbst hinein fast immer etwas blüht. „Meine kleine Oase“, sagt Katja, eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren, der man ansieht, dass sie bei Wind und Wetter gern draußen ist. „Die Natur ist einfach einzigartig hier, die Weite, die Stille. Ich kann hier ein Leben führen, das nicht durch den starren Zeitplan eines durchgetakteten Alltags bestimmt ist, sondern durch den Rhythmus von Ebbe und Flut. Ein Leben, das einen eigenen Herzschlag hat.“
Um sich auf dieses neue Leben einzulassen, musste Katja eine Menge loslassen. München, einen guten Job, ihre Freunde, die Freiheit, nach Feierabend mit dem Motorrad spontan eine Spritztour zu unternehmen. Sie zog zurück zu ihren Eltern und drückte für ein Jahr noch mal die Schulbank, um sich in der Fachschule für Hauswirtschaft in Hanerau-Hademarschen, mitten auf dem platten Land, professionell auf ihren neuen Job als Gastgeberin vorzubereiten. „Es gab Momente, da wollte ich zurück. Momente, in denen ich mit meinem Liebes- kummer nicht klarkam, es Diskussionen mit meinen Eltern gab, ich Sehnsucht nach meinen Motorradtouren und meinen Freunden hatte. Ich saß lange zwischen den Stühlen, war hin und her gerissen zwischen meiner alten Heimat und der Hallig, dem Vertrauten und dem Neuen.“ Katja stürzte sich in die Arbeit und neue Bekanntschaften, ging samstags in die Disco auf der Backenswarft, fuhr
mit Bekannten nach Amrum, in eine Kneipe oder auf eine Party in einer der großen Hallen, in denen im Winter die Strandkörbe eingelagert werden. Es gab Spieleabende in großer Runde, Lagerfeuer am Seglerhafen – Langeweile gab es nicht. 2003 dann übernahm Katja schließlich die Pension ihrer Eltern und stieg auch in die Lokalpolitik ein. Viel Freizeit hatte sie ab da nicht mehr, und alle Zweifel wurden mangels Zeit für Klärung einfach verdrängt.
Die Quittung dafür gab es nach acht Jahren. Katja war kurz vorm Burn-out, ihr Hausarzt empfahl eine Kur, sie jedoch entschied sich für eine dreimonatige Auszeit in Neuseeland. „Ich hatte meinen Platz noch nicht ge- funden und musste mich mal wieder nur mit mir beschäf- tigen. Gucken, was ich den ganzen Tag mache, wenn
ich nicht arbeite. Wozu ich Lust habe, was mich reizt. Neuseeland war großartig, ein neuer Sehnsuchtsort, aber schon nach drei Wochen dort merkte ich: Ich habe Heimweh nach Hooge. Ich kam hoch motiviert zurück. War ich acht Jahre zuvor eher aus einer ,Jetzt erst recht‘-Haltung gekommen, hatte ich mich nun wirklich und ganz bewusst für die Hallig entschieden.“
INTENSIVKURS HALLIG
Natürlich wusste sie auch besser, worauf sie sich einließ, wusste, was schön ist am Halligleben – kannte aber auch seine schwierigen Seiten. „Wir leben hier in einer unend- lichen Weite, dennoch ist der Lebensraum sehr begrenzt. Jeder bekommt alles vom anderen mit, die Häuser stehen auf den Warften sehr eng nebeneinander, keines hat Vor- hänge. Das heißt aber noch lange nicht, dass man sich wirklich kennt und Nähe zulässt. Eher im Gegenteil.
Manchmal denke ich, für Freundschaften oder enge Be- ziehungen hockt man auf einer Hallig zu dicht aufeinander. Trotzdem muss man miteinander auskommen. Auf dem Festland sucht man sich gern den einfacheren Weg, meidet Leute, die man nicht mag. Das funktioniert auf einer
Hallig nicht. Sie ist ein Intensivkurs in Sachen Toleranz, Respekt und auch Gelassenheit. Sie hat mich gelehrt, mich nicht über Dinge zu ärgern oder aufzuregen, die ich ohnehin nicht ändern kann. Das gelingt nicht immer, aber wesentlich öfter als früher in der Großstadt.“
Katja hat sich beigebracht, bewusst fröhlich zu sein und darauf zu achten, was ihr guttut. Oft ist das, abends einfach zu Hause die Füße hochzulegen. Inzwischen geht sie nur noch selten aus, man sieht sie kaum auf Geburtstagen, und an Festen nimmt sie am ehesten dann teil, wenn sie dort eine Aufgabe hat. Nur im Chor singt sie regelmäßig, jeden Dienstag ist Probe. Die meisten ihrer Freunde aber, das sagt Katja auch nach 17 Jahren noch, leben auf dem Festland, via Social Media hält sie Kontakt. Einsam fühlt sie sich trotzdem nie. „Lange habe ich mit großer Wehmut an sie gedacht. Aber inzwischen hat Freundschaft einen anderen Stellenwert für mich be- kommen. Manche Leute sehe ich mehrere Jahre nicht.
Aber wenn wir uns dann treffen, machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben. Freunde können das. Man muss keine Floskeln austauschen à la ,Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren‘... das sind doch oft nur leere Worte. Das Gefühl wird einfach im Moment des Wieder- sehens gelebt, und das ist so viel mehr wert.“
DIE STILLE HÖREN
Ihre wichtigste Bezugsperson auf der Hallig ist Jan, den sie schon länger kennt, als sie dort lebt. Er ist mit seinem Zwillingsbruder einer der Letzten, die auf der Hallig ge- boren wurden. „Von ihm lerne ich auch heute noch, sie mit offenen Augen zu betrachten. Es beeindruckt mich immer wieder, wie er scheinbar unaufmerksam im Sommer über die Wiesen geht. Und dann auf einmal sagt: ,Rechts hält
sich ein Austernfischerküken versteckt.‘ Oder: ,Da vorn ist ein Seeschwalbengelege.‘ Diesen Blick, der von klein auf für die Besonderheiten der Natur geprägt und sensi- bilisiert wurde, werde ich wohl nie haben.“ Und doch hat die Hallig auch Katjas Sinne geschärft – ein wesentlicher Grund, warum sie das Leben hier so liebt. „Ich denke oft darüber nach, wie es wäre, wenn ich noch in München leben würde. Könnte ich die Stille hören, oder würde ich mich über vorbeifliegende Regenpfeifer freuen, deren Gefieder in der Sonne manchmal funkelt wie Diamanten? Hätte ich einen Blick für die Weite und könnte das Nichts aushalten? Ehrlich gesagt: Ich glaube, nicht.“
Auch ihre Liebe zu Tieren hat Katja auf Hooge neu ent- deckt, besonders die zu Kühen. Als Pensionsvieh kommen sie von Mai bis Oktober auf die Hallig, und Katja genießt es, bei ihnen auf der Weide zu sein. „Sie sind viel mehr als nur Milch- und Fleischlieferanten, es sind sensible,
gesellige, wunderbare Tiere.“ Inzwischen hat Katja sogar eine eigene Kuh, Schmusi. „Nie im Leben hätte ich ge- dacht, dass einem eine Kuh so ans Herz wachsen kann. Aber sie ist unglaublich, genießt es, gestreichelt und gekrault zu werden, zieht mir die Tüte mit Leckerli aus der Tasche, wenn ich sie nicht freiwillig rausrücke.“
Wie sehr sie mit der Hallig verbunden ist, merkte Katja vor einigen Jahren, als sie aus finanziellen Gründen darüber nachdenken musste, ihr Haus zu verkaufen. Von nur zwei Ferienwohnungen zu leben ist nicht leicht, und es gibt kaum Aussichten für sie, zu expandieren. Das war eigent- lich ihr Traum, irgendwann ein Haus mit drei, vier Woh- nungen zu haben, dazu ein kleines Café, vielleicht einen Wellnessbereich. Doch der Platz auf der Hallig ist be- grenzt, die Bauvorschriften sind rigide, und die Gemeinde- vertreter waren von Katjas Idee nicht zu überzeugen. Das ließ sie irgendwann skeptisch und mutlos werden. Ein Makler hatte ihr Haus bereits bewertet, nur die Annonce in der Zeitung fehlte noch. „Es war furchtbar, der Gedanke, die Hallig zu verlassen, nahm mir die Luft zum Atmen. Gleichzeitig war es toll, zu spüren, wie sehr ich schon hier verwurzelt war.“ Zum Glück wendete sich das Blatt, nach einer Einladung in eine Talkshow kamen mehr Gäste, in- zwischen ist Katja schon fürs Folgejahr so gut wie ausge- bucht. „Manchmal frage ich mich auch heute noch, ob das Leben hier für mich das Richtige ist, ob meine Entschei- dung für Hooge richtig war. Trotzdem bereue ich meinen Schritt nicht. Ich habe vieles losgelassen, als ich hierher- zog. Aber ich habe so viel an Erfahrung gewonnen.“