Kleines Haus, Grosse Freiheit

Kleines Haus, Grosse Freiheit

Text: Chris Muyres, Pauline Broccard, Christiane Würtenberger
Photos: Line Kragmose, Walden Studio, Wohnwagon.at

In ein winziges Haus im Grünen zu ziehen kann ein grosser Gewinn sein. Weniger Besitz, weniger Fixkosten, das macht unbeschwerter, man ist viel näher an der Natur. Wie sich das Leben im Tiny House anfühlt – und was es für Hürden gibt.

In einer selbst gebauten Hütte an einem kleinen See wollte der Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862) der hektischen und materialistischen Gesellschaft ent­ iehen. Er hatte das Gefühl, sich selbst zu verlieren in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Er sehnte sich nach mehr Ruhe, Natur, Einfachheit und Freizeit –
und das war 1845! Auch heute haben viele Menschen dieses Bedürfnis, wollen mit weniger Besitz leben, in engerem Kontakt zur Natur und zu sich selbst. Das zeigt sich zum Beispiel an der schnell wachsenden Tiny­House­Bewegung, die in den USA entstand und von dort vor einiger Zeit auch nach Europa schwappte. Man braucht sich nur das Äußere dieser Minihäuser an­ zusehen: Fast alle haben den romanti­ schen Charme einer Blockhütte oder eines Zirkuswagens, und zumeist stehen sie in einer idyllischen, ländlichen Umgebung. Außerdem regen sie unwillkürlich zu einem Gespräch über Nachhaltigkeit an und dar­ über, was man wirklich braucht im Leben.

REGELN FÜR PIONIERE

Viele Menschen beginnen darüber nach­ zudenken, ob das vielleicht auch etwas für sie sein könnte. Sie fragen sich, ob sie wirklich so selbstverständlich dem Muster folgen müssen, dass jedes neue Zuhause größer sein muss als das alte, oder ob sie nicht glücklicher wären, wenn sie weniger besäßen, kleiner und nachhaltiger lebten, keine hohen Hypothekenschulden hätten.

Zumal kleiner zu wohnen keineswegs bedeuten muss, spartanisch und beengt zu leben. Tiny Houses sind zwar in der Regel nicht größer als 20 Quadratmeter, aber trotzdem vollwertige Häuser, die man ganz nach den eigenen Wünschen gestalten kann – mit viel Helligkeit und sogar einer gewissen Geräumigkeit. Meist gibt es eine Komposttoilette, Solarzellen

auf dem Dach liefern den nötigen Strom. Allerdings wohnen darin dauerhaft erst wenige Menschen in Europa, denn die meisten Tiny Houses genügen nicht den jeweiligen Bauvorschriften, schon allein was die Mindestmaße für Wohnräume betrifft. Daher werden Genehmigungen für Stellplätze nur in Ausnahmen erteilt, und man erhält auch keine of zielle Adresse.

In einigen Ländern gibt es schon Gemein­ den, die offen sind für die neue Wohnform und Orte zum Experimentieren schaffen, sogenannte Öko­ oder Tiny­House­Dörfer, in denen man sich vorübergehend nieder­ lassen darf. In Deutschland ist das leider noch nicht der Fall. Man braucht immer eine Baugenehmigung, wenn man mit seinem Minihaus irgendwo dauerhaft stehen will. Und die bekommt man nur schwerlich.

Tiny­House­Pioniere gehen aber davon aus, dass die Regierungen die Vorschriften irgendwann anpassen werden. Und bis dahin ist es eine Frage der Lobbyarbeit, mit den Gemeinden im Gespräch zu bleiben und auf Sonderregelungen zu hoffen. Das Wichtigste ist, nicht den Glauben daran
zu verlieren, dass man irgendwann dauer­ haft einen Platz für sein Tiny House nden wird. Theresa Steininger, Line Kragmose und Marjolein Jonker haben das Wohnen im Miniformat schon geprobt. Hier erzäh­ len sie von ihren Erfahrungen.

THERESA STEININGER (27)

ist Geschäftsführerin der Firma Wohnwagon, die Tiny Houses baut. Demnächst zieht sie selbst in eines. Derzeit bereitet sich die Österrei- cherin auf den Umzug vor.

„Schon vor einer Weile habe ich begonnen, meinen Hausstand zu verkleinern, über­ üssige Dinge wegzugeben. Man muss sich trauen, das Richtige auszuwählen, wenn man in ein Tiny House ziehen will. Bei mir ist es nächstes Jahr so weit. Die Begeisterung für Minihäuser kommt durch meinen Beruf – wir bauen selbst welche! Ich nde die Frage spannend, wie das Wohnen der Zukunft aussehen kann, wie Menschen autark und nachhaltig leben können. Mit Christian Frantal zusammen habe ich in Österreich vor vier Jahren Wohnwagon gegründet, ein Start­up, das Tiny Houses auf Rädern herstellt.

Eigentlich sollte mein Leben nach einem anderen Plan verlaufen. Neben meinem Elternhaus gab es ein Grundstück, und auf dem hätte ich bauen können. Aber die Vorstellung, lange einen Kredit abzuzahlen, hat mich erschreckt. Also bin ich nach Wien in eine Mietwohnung gezogen und war zunächst einmal sehr glücklich mit meinem selbstbestimmten Leben. Doch dann wurde mir klar, dass es immer noch nicht passte. In meiner Wohnung gab es zwei Lieblingsplätze, die Küche und das Wohnzimmer, mehr brauchte ich nicht. Also bin ich von einer 70­ in eine 50­ und am Ende in eine 30­Quadratmeter­Woh­ nung gezogen. So ist es jetzt viel gemüt­ licher, und ich habe viel weniger Haushalt zu erledigen. Mein Tiny House wird hof­ fentlich in einem Modelldorf mit anderen Häuschen stehen, wo wir auch Gemein­ schafts ächen schaffen können.

Für meinen minimalistischen Lebensstil gibt es eine Grundregel: Wenn etwas Neues in die Wohnung kommt, muss etwas Altes weg. Ich sortiere jeden Monat aus und frage mich dabei: Was umgibt mich? Was will ich loswerden? Was kann ich anders verwerten? In diesem Prozess des Reduzierens be nde ich mich mittlerweile seit drei Jahren. Weniger Besitz, das ist für mich eine Befreiung, der wahre Luxus. Wenn man weniger hat, bekommt man einen anderen Bezug zu den Dingen, die einen umgeben. Man sucht sie sorgfältig aus, kauft sie in guter Qualität und benutzt sie lange. Es bringt doch nichts, wenn Sachen rumstehen und bloß noch abge­ staubt werden.“ wohnwagon.at

LINE KRAGMOSE (28)

lebte als Studentin eine Zeit lang
in einer Kleingartensiedlung im dänischen Aarhus. Sie stellte fest, dass klein zu wohnen die Menschen näher zusammenbringt.

„Gut zwei Jahre lang wohnte ich mit meinem Freund Jonas in einem Garten­ haus. Hier in Dänemark ist das in einigen Kleingartenkolonien erlaubt. Ich fand
es herrlich, die Freiheit, die Atmosphäre, die Menschen. Wir waren wie eine Familie, immer bereit, einander zu helfen oder ein Schwätzchen zu halten. Im Haus hatten
wir alles, was wir brauchten. Wohnzimmer, Küche, ein kleines Büro, ein winziges Badezimmer und ein Schla oft. Und nicht zu vergessen: Wir hatten einen schönen Garten. Als wir dorthin zogen, ging es mir nicht gut. Ich musste mein Studium unter­ brechen und brauchte Ruhe. Das kleine Haus war der ideale Fluchtpunkt, ich fand dort Geborgenheit. Es machte mir Spaß, das Häuschen einzurichten und es zu fotogra eren. Die Fotos stellte ich auf Instagram. Ich ging ganz darin auf, das Projekt war eine angenehme Ablenkung. Dadurch kam ich allmählich wieder zu
mir. Das Minihaus in der Kleingartenkolonie war die beste Therapie für mich.

Mit dem Verändern des Häuschens
konnte ich mich endlos beschäftigen. Nun ja, nicht ganz, denn ich bin verrückt danach, Secondhandläden zu durchkäm­ men und auf Flohmärkten zu stöbern.
Es war schwer, ein Plätzchen für all meine Fundstücke zu nden. Doch auf so kleinem Raum wird man kreativ und er nderisch. Die Idee für mein Minibüro fand ich genial, aber auch andere Lösungen funktionierten gut, etwa die Schuhe hinter ein großes Gummiband an die Wand zu klemmen.

Durch das Wohnen im Gartenhaus habe ich gelernt, dass man wirklich kein großes Haus braucht, um glücklich zu sein. Viel wichtiger ist es, einen eigenen Stil für sein Zuhause zu nden. Man muss ein Stück weit seine Seele hineinlegen. Das Schöne am kleineren Wohnen ist, dass man ganz von selbst mehr auf die kleinen Dinge achtet und sie genießt. Und nicht zu ver­ gessen: Es bringt die Menschen einander näher. Leider konnte ich in dem Haus nicht bleiben, aber ich hoffe sehr, dass
ich irgendwann wieder die Möglichkeit habe, in einem Tiny House zu wohnen – oder sonst vielleicht auf einem Hausboot.“ Instagram: @linekragmose

MARJOLEIN JONKER (42)

träumt davon, dass Leute, die als Selbstversorger leben wollen, auch die Möglichkeit dazu bekommen. Sie selbst hat es schon mal vorgemacht. „Ein gemütliches Häuschen mit Gemüse­ garten, ein paar Hühnern und Bäumen drumherum, das wünschte ich mir. Und vor allem wollte ich nachhaltiger leben
als in dem Reihenhaus, das ich seit 15 Jah­ ren gemietet hatte. Ich träumte davon, Selbstversorgerin zu sein, denn ich nde es wichtig, dass wir besser mit der Erde umgehen. Aber ich dachte, dass das mit meinem Budget nicht machbar sein würde. Bis ich Fotos von einem Tiny House in Amerika sah. Da wusste ich sofort: Das
ist es, so könnte es klappen. Zuerst ging ich mit meinen Ideen zu einem Hersteller von Gartenhäuschen, aber das brachte nichts. Glücklicherweise traf ich bald dar­ auf Lena van der Wal, die mit ihrem Bruder Laurens zusammen ein Architekturbüro für autarke kleine Häuser gründen wollte. Sie suchten einen Testfall, ich wiederum wünschte mir ein Tiny House – das war ein echter Glückstreffer. Ich lieferte eine Liste mit dem, was ich haben musste und was ich gern haben wollte. Darauf standen Dinge wie: eine schöne Küche mit Ofen, Klapptüren, ein Holzofen, ein Schla oft, eine gemütliche Sitzecke und eine Sitz­ badewanne. Das hat alles geklappt und noch mehr. Ich bin so glücklich mit meinem Tiny House. Es fühlt sich wirklich wie ein vollwertiges Haus an. Es ist hoch, hell, offen und geräumig. Und das Aller­ wichtigste: Es hat eine Seele.

Als ich zu planen begann, wusste ich,
dass es in den Niederlanden verschiedene Regeln und Gesetze gibt, die es einem erschweren, dauerhaft in einem Tiny House zu wohnen. Aber ich dachte: Ich fange einfach an, und währenddessen rede ich mit den zuständigen Behörden und kläre alles. Wenn man etwas verändern will, nützt es nichts, sich zu beschweren. Besser
ist es, aktiv zu werden. Vier Tage vor Fertig­ stellung meines Hauses erhielt ich von der Stadt Almere den Bescheid, dass ich an dem Ort wohnen durfte, wo ich jetzt stehe. Für einen Monat! Das hat mir erst mal einen Schreck eingejagt, aber jetzt darf
ich vielleicht sogar fünf Jahre bleiben.

Autark zu wohnen hat mein Leben positiv verändert. Ich bin viel stärker mit der Natur und dem Wetter verbunden, und das tut mir gut. Mit der Initiative Tiny House Nederland, die ich mitgegründet habe, will ich zur Verbreitung dieser wunderbaren Wohnform beitragen. Ich tue jetzt genau das, was mir wirklich am Herzen liegt, ich lebe meinen Traum.“ marjoleininhetklein.com

Flow 28, 2017

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Stevie Schmiedel

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Abgeschiedenheit auf Hallig Hooge

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