Sie kämpft für Katalonien

Sie kämpft für Katalonien

Photos: Nik Hunger

Eine Baslerin an vorderster Front! Die Schweiz-Katalanin ESTHER FLUBACHERsetzt sich mit Herz und Seele für die Unabhängigkeit ihrer zweiten Heimat ein. Doch selbst ihre Familie ist gespalten.

Mit feuchten Augen, die Hände in die Luft gestreckt, steht Esther Flubacher, 38, vergangenen Samstag auf der Passeig de Gràcia in Barcelona. Neben ihr weint ein älterer Mann. Ein Kind schreit: «Freiheit, Freiheit!» Rund 450 000 Katalanen demonstrieren gegen die Machtübernahme durch die spanische Regierung und singen «Què volen aquesta gent?» – was wollen diese Leute? Das Lied stammt aus der Zeit von Francisco Franco. Der Diktator führte Spanien bis 1975 und unterdrückte die nach Autonomie strebenden Regionen. «Als die Polizisten am 1. Oktober die Wahllokale stürmten, um die Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens zu verhindern, fühlten sich viele an diese schreckliche Zeit erinnert», sagt die spanisch-schweizerische Doppelbürgerin.

Esther Flubachers Mutter ist Katalanin, ihr Vater Basler. Vor zwei Jahren hat Flubacher die Schweiz der Liebe wegen verlassen und ist nach Reus gezogen. Die zweitgrösste Stadt Südkataloniens liegt eine Autostunde südlich von Barcelona. Bereits in der Schweiz engagierte sich Flubacher, damals aktives Mitglied der Grünliberalen, für die Unabhängigkeit ihrer zweiten Heimat. Heute arbeitet sie hier bei einem Autohersteller und setzt sich, wann immer sie kann, politisch ein. «Wir müssen gehört werden.»

Seit dem 1. Oktober ist ganz Katalonien in Aufruhr. Es ist der Tag, an dem das Volk der wirtschaftsstarken Region über seine Unabhängigkeit abstimmen will – und die spanische Regierung es gewaltsam daran hindert. Flubacher ist in Reus mittendrin. «Wir standen alle schon um fünf Uhr morgens im Wahllokal, und als die Urnen ankamen, weinten viele. Die Urnen wurden zuvor in Frankreich versteckt», sagt Flubacher. «Dauernd fuhren die Polizisten vorbei. Aber wir sind alle bis zum Ende geblieben und haben die Wahlzettel verteidigt.» Seither ist einiges geschehen. Am 16. Oktober werden die «Jordis», zwei führende Aktivisten, inhaftiert, und am 21. Oktober kündigt Madrid die Machtübernahme von Katalonien an.

Esther Flubacher will das nicht akzeptieren. Für sie ist klar: Katalonien muss sich abtrennen. «Die Regionen müssen Kompetenzen erhalten wie die Schweizer Kantone. Aber Spanien bewegt sich immer mehr Richtung Zentralismus. Zum Beispiel will Madrid mit einer Schulreform die katalanische Sprache verdrängen.» Zudem stört Flubacher sich daran, dass die Regierung die Zahlungen von Katalonien an die anderen Regionen nicht transparent macht. «Wären wir wirtschaftlich unabhängig, könnten wir selbst entscheiden, wofür wir das Geld ausgeben.»

Im Wahllokal der Assemblea Nacional Catalana (ANC) organisiert Flubacher am Tag vor der grossen Demonstration mit Onkel Daniel, 64, und Tante Consol, 64, die Bustickets nach Barcelona. Alle drei sind Mitglieder der ANC. Die Bürgerinitiative organisiert jede Woche Protestaktionen über Whatsapp. So wie der Protest mit Pfannen und Löffeln: «Wir stehen auf unsere Balkone und schlagen zehn Minuten lang mit auf unsere Pfannen. Das kann ganz schön laut werden.»

Auf dem Marktplatz trifft Esther Flubacher Montserrat Vilella Cuadrada, 51. Sie ist die stellvertretende Bürgermeisterin von Reus und Parlamentarierin Kataloniens. Bevor die zwei in der Bar etwas trinken, schauen sie sich besorgt um. Sind es russische Touristen oder spanische Polizisten in Zivil, die nebenan sitzen? «Es kann sein, dass uns jemand abhört. Es haben sich auch spanische Polizisten in unsere Whatsapp-Gruppen eingeschleust», sagt Flubacher besorgt.

Als Montserrat Vilella vom 1. Oktober erzählt, reibt sie sich ihren Arm. Sie hat Hühnerhaut. «Es schmerzt, wenn man diesen Tag miterlebt hat und sieht, wie die spanischen Medien die Geschehnisse verdrehen», sagt sie betrübt. Und fügt hinzu: «Die spanische Regierung hat uns nicht zugehört. Und die EU hat uns im Stich gelassen.» Immerhin hätten sich jene Katalanen, die abstimmen konnten, zu 90 Prozent für die Unabhängigkeit ausgesprochen.

In Katalonien sind aber nicht alle Separatisten. Selbst Flubachers nächstes Umfeld ist gespalten. Zu Hause in Reus bei Rotwein und Tintenfisch diskutiert sie mit ihrem Freund Xavier, 41. Er ist nicht ihrer Meinung: «Ob ich in einem Land lebe, das Spanien oder Katalonien heisst, ist mir nicht so wichtig.» Nach den gewalttätigen Ausschreitungen am 1. Oktober gehe es für ihn jetzt aber nicht mehr nur um die Unabhängigkeit, sondern um demokratische Rechte, die die Katalanen nicht nutzen dürfen. Flubacher ergänzt: «Wäre das Resultat negativ ausgefallen, wäre für mich die Sache vom Tisch. Aber Madrid hat unsere Abstimmung für ungültig erklärt!»

Am Tag nach der Demo besucht Flubacher ihre Familie in Basel. Ihre Mutter Mercedes, 67, ist für die Unabhängigkeit. Sie selbst hat die Franco-Zeit miterlebt. «Ich vertraue der spanischen Regierung nicht mehr. Die Enkel der damaligen diktatorischen Führung sind heute an der Macht.» Auch wenn sie das Engagement ihrer Tochter unterstützt, sagt sie: «Ich habe Angst um Esther.» Der schweizerische Teil von Flubachers Familie ist kritischer: «Sie verstehen nicht, wie ich als Juristin etwas ‹Illegales› verteidigen kann.»

Diesen Freitag wird der Senat voraussichtlich die Machtübernahme Kataloniens bestätigen. Das schreckt die Regionalregierung nicht ab: Sie will gegen Madrid klagen. Auch Flubacher bleibt kämpferisch: «In maximal fünf Jahren wird es einen souveränen katalanischen Staat geben!»

Schweizer Illustrierte, 27/10/2017

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