Ist Ihr Zustand noch «normal», oder braucht Ihre Psyche Therapie?
Photo: Tony Tei
Der Psychiater JOSEPH SELINGER (49), medizinischer Leiter der Praxis Qurateam in Basel, über Corona, Warnsignale und die Grenzen der Psychotherapie.
Herr Selinger, wie zieht man Bilanz über das eigene mentale Wohlbefinden?
Nun, dafür ist es sicher sinnvoll, die eigene psychische Leistungsfähigkeit mit derjenigen in den vergangenen Jahren zu vergleichen und sich dabei folgende Fragen zu stellen: Wie gut kann ich mich auf eine anspruchsvolle Arbeit konzentrieren? Wie hoch sind meine dafür benötigte Ausdauer und mein Durchhaltevermögen? Kann ich mir die gefragten Dinge merken und abrufen, und wie viel kriege ich gleichzeitig auf die Reihe? Zugleich sollte man sich fragen, wie es um das generelle Wohlbefinden, das Glücksgefühl und die Zuversicht bezüglich der eigenen Zukunft steht. Nicht zuletzt könnten Sie sich fragen: Bleibt bei alldem genügend Reserve für das mir nahestehende Umfeld?
Besteht da nicht schon die Gefahr, sich in zu vielen Baustellen zu verzetteln?
Die zuvor genannten Fragen können als eine Art Schablone funktionieren, die man situativ über essenzielle Lebensbereiche wie Arbeit, Partnerschaft, Freundschaft oder Freizeit halten kann. Schön der Reihe nach. Dann sieht man: Bin ich ausgeglichen, zufrieden, zuversichtlich, oder bröckelts irgendwo? Das könnten dann wertvolle Hinweise sein, wie es um die eigene mentale Gesundheit steht.
Allerdings fällt es einem oftmals schwer, zuzugeben, dass man Probleme hat. Woran liegt das?
Über die Themen Stigmatisierung oder als «Sonderling» zu gelten, wurde schon viel geschrieben. Zusätzlich ist den meisten Menschen der Heilungsprozess bei einer psychischen Krankheit nicht klar. Das ist ganz anders als bei einem gebrochenen Bein. Nach sechs Wochen Gips und Physiotherapie ist Ihr Bein so gut wie neu. Bei einer psychischen Krankheit ist eine häufige Annahme: Übers Reden wird man gesund. Eine Depression kann jedoch leicht bis schwer ausfallen, einmalig oder wiederkehrend sein, und es braucht womöglich auch Medikamente oder einen stationären Aufenthalt. Die Bandbreite an Diagnosen und Therapieansätzen ist riesig.
Wir stecken seit zwei Jahren in der Corona-Pandemie fest. Wie steht es aus Ihrer Sicht um unsere mentale Gesundheit?
Die Pandemie hat verschiedenste Bevölkerungsgruppen unterschiedlich getroffen. Insgesamt geht es auf der Ebene der mentalen Gesundheit den meisten schlechter. Ganz zu schweigen von akut Betroffenen: Depressiven Patienten empfehlen Psychotherapeuten beispielsweise gern, viel mit anderen Menschen zu unternehmen, die Komfortzone zu verlassen und eine Tagesstruktur aufzubauen.
Das klingt verzwackt!
Ja, denn da sind auf einmal viele therapeutische Werkzeuge weggefallen und für Betroffene zusätzliche Herausforderungen dazugekommen. Jemand, der bisher mit wenig Ressourcen knapp über die Runden kam, kommt mit der Pandemie sicherlich an seine Grenzen und verliert die noch übrig gebliebene Energie. Jemanden, der stark, gesund und kraftvoll unterwegs ist, überfordert die plötzliche Umstellung von Homeoffice und Homeschooling. Gleichzeitig sind zahlreiche Erholungsmöglichkeiten weggefallen. Für alle heisst es jetzt, eine Balance mit frischen Impulsen zu entwickeln – und sich neu zu erfinden.
Und was bringt eine Therapie?
Eine therapeutische Begleitung bringt Sicherheit auf dem Weg zur Veränderung und Instruktionen über die darin wichtigen Elemente. Diesen Weg muss man nicht allein gehen; man kann sich auf die Erfahrung von Experten stützen.
Sind einem da auch Grenzen gesetzt?
Grundsätzlich gilt: Menschen sind unterschiedlich. Je nachdem, wie viel Kraft und Leistungsfähigkeit es dafür braucht, den Veränderungsprozess zu stemmen, und wie gross die Motivation dafür ist, kann der Erfolg variieren. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Frage organisatorischer Hürden: Finde ich eine psychologische Begleitung, und steht diese auch gerade zur Verfügung? Dieses Problem wurde durch die Pandemie leider verstärkt.
Und wie weiss ich, dass es Zeit für eine Behandlung ist?
Ich rate als Erstes, aufs Bauchgefühl zu hören. Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Zustand nicht mehr «normal» ist? Solche Überlegungen sind bereits starke Hinweise. Ihr Hausarzt kann gut als erste Anlaufstelle dienen und mitbeurteilen, ob ein Spezialist hinzugezogen werden soll. In unserer Praxis Qurateam bieten wir auch Abklärungsgespräche an. Dabei wird in vier Sitzungen eine erste Diagnostik gemacht und über Möglichkeiten und Optionen für Veränderungen gesprochen.
Wieso sollte ich mir eine Therapie als Jahresvorsatz nehmen?
Sich selbst einzugestehen, dass man Hilfe benötigt, braucht viel Mut. Für Veränderungswünsche ohne Krankheitsbezug rate ich zu einem Coaching oder zu einer Beratung. Für Menschen mit einer Diagnose wie Depression, Burn-out, Angststörung oder Ähnlichem ist eine Therapie ein geeigneter Weg, emotional ausgewogener und vitaler zu werden sowie mehr Freude zu empfinden.