Sara Aduse wurde genitalverstümmelt: «Liebe ist verträglicher als Wut»

Sara Aduse wurde genitalverstümmelt: «Liebe ist verträglicher als Wut»

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Als Kind wurde Sara Aduse genitalverstümmelt. Als Erwachsene kehrte sie nach Äthiopien zurück, um vor Ort über das Tabu der Genitalverstümmelung zu sprechen.

Sara Aduse, rund 200 Millionen Mädchen und Frauen sind weltweit genitalverstümmelt. Jährlich kommen drei Millionen neue Fälle dazu. Sie selbst waren sieben Jahre alt, als Sie dieses Schicksal erlitten. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an jenen Tag zurückdenken?
Sara Aduse: Meine Grossmutter schickte meine Brüder, Cousinen und Cousins aus dem Haus, in dem wir in Harar, im Osten Äthiopiens, lebten. Nur ich sollte dableiben. «Heute ist dein Tag», erklärte sie mir. «Heute wirst du zur richtigen Frau.» Ich würde gefeiert werden, Besuch, Geschenke und Geld bekommen. Ich konnte es kaum erwarten. Mit dem Geld wollte ich meiner Freundin und mir ein Vanilleeis kaufen. Aber als drei Frauen ins Wohnzimmer kamen und mir sagten, ich solle meine Hose ausziehen und mich in die Mitte setzen, ahnte ich, dass etwas Schlimmes passieren würde.

Was ist dann passiert?
Die beiden Frauen und meine Grossmutter hielten meine Arme und Beine fest. Ich spürte eine Spritze an meiner Klitoris. Sie war nicht zur Betäubung gedacht, sondern dafür, dass der Kitzler aufschwillt und besser greifbar wird. Mit der Pinzette hielt die Beschneiderin meine Klitoris fest und schnitt sie mit dem Skalpell ab. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem Zimmer. Im Haus war es laut, die Feier hatte begonnen.

Ihre älteren Cousinen hatten ihre Beschneidung bereits hinter sich. Spricht man unter Mädchen nicht darüber, was dabei geschieht?
Nicht darüber, was wirklich Sache ist. Als Mädchen erwartet man diesen Moment mit Vorfreude, um endlich zum Kreis der heiratswürdigen Mädchen und Frauen zu gehören. Deshalb lassen Mütter ihre Töchter beschneiden. Ziel ist es, den Mädchen die sexuelle Lust zu nehmen. Man ist stolz darauf. Ohne Beschneidung gilt eine Frau als schmutzig und sollte sich schämen. Aber ich war nicht stolz. Ich hatte solche Angst und Schmerzen. Darüber redet man definitiv nicht.

Was bedeutete die Beschneidung für Ihre Seele?
Ich habe das Verspielte, das Kindliche und das Freudvolle in mir verloren. Das Urvertrauen war gebrochen. Ich fühlte mich hilflos, ausgeliefert und fremdbestimmt. Lange danach hatte ich das Gefühl, dass meine Stimme nicht zählte und es nur Zuwendung gibt, wenn ich gehorche.

Wie hat das Ihr Erwachsenenleben geprägt?
Ich traute mich nicht «nein» zu sagen oder überhaupt Haltung zu zeigen. Auch nach unserem Umzug in die Schweiz, wo ich später als Pflegerin arbeitete, hatte ich immer das Gefühl, ich müsse den Menschen dienen, damit sie mich mögen. Ich war voller Komplexe, fühlte mich unsicher und eingeschüchtert. Ich reagierte meinem Umfeld gegenüber aggressiv und geriet in Streitereien. Fragte mich, wieso ich es nicht schaffte, meine Mutter zu lieben. Ich war depressiv und stürzte mich in toxische Beziehungen, in denen Gewalt und Eifersucht stets eine Rolle spielten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf mich selbst achten sollte. Selbstliebe war mir ein Fremdwort.

Wie fanden Sie aus diesem Teufelskreis heraus?
Nach einer schmerzhaften Trennung lernte ich eine Freundin kennen, zu der ich schnell Vertrauen fand. Gemeinsam besuchten wir ein Seminar über Selbstliebe. Nachdem ich anderen Teilnehmerinnen zugehört hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen, stand mit zitternden Beinen auf und redete vor 800 Menschen über meine Genitalverstümmelung. Ich schrie meine Geschichte regelrecht heraus, und die Leute applaudierten. Zum ersten Mal hatte ich mich verletzlich gezeigt, und zu meiner Überraschung fühlte ich mich unterstützt und lebendig.

Was ist daraus entstanden?
Nach und nach habe ich gelernt, meine Emotionen zu kommunizieren und Nähe zuzulassen. Auch die Beziehung zu meiner Mutter hat sich seither stark verbessert. Vor drei Jahren habe ich mich dazu entschlossen, meine Klitoris wiederherstellen zu lassen. Dabei wurde die Narbe über der verstümmelten Klitoris aufgeschnitten und das übriggebliebene Stück rekonstruiert. Auch wenn die Klitoris noch immer mehr oder weniger gefühllos ist, bin ich durch diesen Eingriff selbstbewusster geworden, ich fühle mich als ganze Frau.

Wie erleben Sie Sex heute?
Früher hatte ich keinen Bezug zu meiner Vulva, ich schämte mich, mich nackt zu zeigen. Von meinen Schweizer Freundinnen hörte ich, wie toll ihr Sexleben sei. Meines war höchstens ganz okay, ich konnte auch gut ohne auskommen. Jetzt ist es ganz anders. Mit meinem Partner kann ich mich voll und ganz gehen lassen. Zuerst musste ich aber lernen, dass Hände auch liebevoll und zärtlich sein können.

Sie sind Aktivistin und Botschafterin der Präventionskampagne «Bye Bye FGM». Vor zwei Jahren sind Sie für ein Medienprojekt nach Äthiopien zurückgereist. Wie haben Sie vor Ort über das Tabu Beschneidung gesprochen?
Ich besuchte Schulen und habe mit vielen Frauen und Mädchen diskutiert. Mir war es wichtig klarzustellen, dass ich eine von ihnen bin. Wäre ich in Äthiopien geblieben, hätte ich meine Töchter wohl auch beschneiden lassen. Aber mittlerweile habe ich ein anderes Weltbild kennengelernt, eines, in dem Frauen und Männer gleichgestellt sind, auch sexuell, und das will ich weitergeben. Ich habe zudem von meiner Wiederherstellungsoperation erzählt, das hat viel Neugierde geweckt.

Haben Sie auch mit Männern darüber gesprochen?
Natürlich. Zuerst waren sie schockiert. Danach haben mir aber viele anvertraut, dass sie heute nicht mehr wollen, dass ihre Frauen beschnitten werden – vor allem die jungen Männer nicht. Sie wünschen sich, dass ihre Frauen sexuelle Lust verspüren, genauso wie sie selbst. Die Genitalverstümmelung ist in Äthiopien zwar seit 2007 offiziell verboten. Trotzdem gibt es noch Familien, die nur beschnittene Frauen für ihre Söhne wollen.

Sind Sie auf gar keinen Widerstand gestossen?
Im Gegenteil: Mütter haben sich bei mir bedankt für meine Arbeit. Sie selbst hätten keine Kraft dazu, dieses Thema anzusprechen. Ausserdem hörte ich oft, dass sich Mädchen Sorge machen um die künftige Beziehung zu ihren Müttern. Es gibt viele junge Frauen, die sich mit ihren Müttern nicht verstehen. Ich bin überzeugt, dass das mit dem Vertrauensbruch zu tun hat, der durch die Beschneidung entstanden ist. Weiter haben mich Lehrer sowie Direktoren an Schulen unterstützt: Sie haben mir den Raum gelassen, Schülerinnen und Schüler über Genitalverstümmelung aufzuklären.

Auf dieser Reise haben Sie Ihre Grossmutter wiedergesehen. Wie war das für Sie?
Erst war ich sehr nervös. Sie hatte angekündigt, dass ich nicht willkommen sei, wenn ich über die Beschneidung sprechen wollte. Aber ich besuchte sie trotzdem – mit der Absicht sie nicht zu verurteilen, ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Schliesslich sprach sie das Thema nach ein paar Tagen selbst an.

Unterstützt Ihre Mutter Sie heute im Kampf gegen die Verstümmelung?
Nicht wirklich, aber sie steht mir auch nicht im Weg. Auch mein familiäres Umfeld in der Schweiz kann mein Engagement nicht ganz nachvollziehen. Viele haben das Gefühl, weil sie selbst den Brauch nicht mehr praktizieren, ginge sie die Angelegenheit nichts an. Aber so kommen wir nicht weiter. Es ist höchste Zeit endgültig Stopp zu sagen.

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist hauptsächlich in Afrika, Asien und im Nahen Osten verbreitet. In der Schweiz gilt FGM als Straftat. Sara Aduse erlitt eine Verstümmelung vom Typ 1. Dabei wird die Klitoris teilweise oder komplett abgetrennt. Ihrer Grossmutter wurden Teile der äusseren Geschlechtsorgane sowie die Klitoris entfernt, die Vagina bis auf eine Öffnung für Urin und Menstruationsblut zugenäht (Typ 3). Sara Aduse lebt seit 17 Jahren in der Schweiz. Sie schreibt ein Buch über ihren Heilungsprozess, ist Personal-Coach und plant eine Stiftung, die über FGM aufklärt und Betroffene bei der Trauma-Verarbeitung unterstützt. Mehr Informationen findet ihr unter saraaduse.ch

Interview im Annabelle Magazin

Annabelle, 14. Juni 2021

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